Autismus bei Frauen und Mädchen

In den letzten Jahren entdecken immer mehr Frauen und Mädchen, dass sie autistisch sind. Viele von ihnen wurden zuvor aufgrund veralteter Diagnosekriterien und geschlechtsspezifischer Stereotype fehldiagnostiziert oder übersehen. Doch das ändert sich nun langsam.
Historisch betrachtet wurden Autismusmerkmale durch die Pioniere Hans Asperger und Leo Kanner lange Zeit vor allem bei Jungen beobachtet und erforscht. Daraus entstand die falsche Annahme, dass Autisten überwiegend männlich seien. Inzwischen wissen wir, dass sich auch viele Frauen, Mädchen und non-binäre Personen auf dem Spektrum befinden. Der aktuelle Forschungsstand geht davon aus, dass das Geschlechterverhältnis im hochfunktionalen Bereich ca. 2(männl. ) : 1 (weibl.) ist. Dennoch werden etwa 80 % der Frauen mit Autismus bis zu ihrem 18. Lebensjahr nicht diagnostiziert. Nach und nach zeigt sich, wie unterschiedlich Autismus sich in verschiedenen Personengruppen äußern kann, sodass immer mehr Frauen, wenn auch oft spät, eine Diagnose bekommen.
Eine der zentralen Besonderheiten bei Frauen mit Autismus ist, dass sie sich im Laufe ihres Lebens häufig stark an neurotypische Verhaltensweisen anpassen und dadurch in ihrer Symptomatik nicht sofort auffallen. Dieses Phänomen der Anpassung nennt man „Masking“ oder auch „Camouflaging“. Damit einher geht eine intensive soziale Anpassung. Viele dieser Strategien zur sozialen Anpassung entwickeln betroffene Mädchen bereits früh, um möglichst „normal“ zu wirken. Sie orientieren sich an ihren Mitmenschen und imitieren deren Verhaltensweisen, Mimik und Gestik. Dadurch sind autistische Mädchen in der Schule beispielsweise häufiger in Freundesgruppen integriert als autistische Jungen. Dieses Masking ist für viele allerdings extrem anstrengend und kann zu Zuständen der völligen Erschöpfung und auf lange Sicht sogar zu einem Burnout führen.
Auch das klassische „Stimming“, also selbststimulierendes Verhalten wie Händeflattern, Wippen oder das Wiederholen von Worten, ist bei Frauen oft weniger offensichtlich. Manche dieser Verhaltensweisen ähneln solchen, die bei neurotypischen Frauen als „normal“ gelten, etwa mit den Haaren zu spielen. Allerdings werden diese bei neurodivergenten Menschen mit höherer Intensität, stärkerem Fokus und aus dem inneren Bedürfnis nach Selbstregulation durchgeführt. Außerdem unterdrücken viele weibliche Autisten ihr „Stimming“ aufgrund des gesellschaftlichen Drucks häufig stärker als Männer.
Kinder mit Autismus haben in der Regel Spezialinteressen, in die sie sich stark vertiefen. Auch hier werden Mädchen in ihrer Symptomatik häufig übersehen, da ihre Interessen oft denen neurotypischer Mädchen entsprechen, wie beispielsweise Pferde, Popstars oder Bücher. Natürlich haben Mädchen ein genauso breites Interessensspektrum wie Jungen. Allerdings sind die Interessen bei autistischen Mädchen häufig nicht so spezifisch eingegrenzt, wie die bei autistischen Jungen, was die frühzeitige Erkennung zusätzlich erschwert.
Ein weiterer Unterschied zu Jungen und Männern auf dem Autismus-Spektrum sind internalisierende vs. externalisierende Symptome. Autistische Jungen zeigen häufig offensichtliche Schwierigkeiten beim Stillsitzen oder Auffälligkeiten hinsichtlich aggressivem Verhalten. Autistische Mädchen neigen eher dazu, internalisierend auf den Autismus zu reagieren. Sie entwickeln häufiger Angststörungen oder Depressionen, wodurch sie nach außen eher als schüchtern wahrgenommen werden können, was wiederum eine sozial akzeptierte Norm für Mädchen ist.
Auch über die Lebensspanne hinweg können sich die Symptome verändern. Beispielsweise zeigen einige Studien, dass autistische Mädchen in der Kindheit häufig bessere soziale und kommunikative Fähigkeiten aufweisen, aber autistische Frauen später mehr Schwierigkeiten in diesen Bereichen zeigen. Einige weitere Zeichen für Autismus bei Frauen sind sensorische Empfindlichkeiten, wie ein stark ausgeprägter Sinn für Licht, Gerüche oder Berührungen, wodurch es auch zu Schlafproblemen kommen kann; Probleme in der Selbstregulation und in den exekutiven Funktionen, welche sich in einem mangelnden Durchhaltevermögen, Desorganisation oder emotionalen Ausbrüchen zeigen können; intensiver Fokus auf spezielle Interessen; repetitive Verhaltensweisen oder „Stimming“, wie mit den Haaren spielen, die Haut quetschen, Wörter oder Phrasen wiederholen oder Händeflappern; und komorbide Störungen, wie Angststörungen, ADHS, Depressionen, Essstörungen, Zwangsstörungen und Schlafstörungen.
Alles in allem wird Autismus bei Frauen und Mädchen noch immer viel zu selten erkannt und das nicht, weil er seltener vorkommt, sondern weil er sich oft anders zeigt als bei Jungen und Männern. Die lange Zeit vorherrschenden, männlich geprägten Diagnosekriterien haben dazu geführt, dass viele Betroffene erst spät oder gar nicht erkannt werden.
Zum Glück gibt es inzwischen immer mehr Forschung, die diese männlich geprägten Stereotype hinterfragt. Viele Frauen, Mädchen und non-binäre Personen finden heute durch eigene Recherchen oder den Austausch mit anderen Autistinnen endlich eine Erklärung für ihre langjährigen Erfahrungen. Trotzdem gibt es noch viel zu tun im Bereich der Forschung, der Anpassung von Diagnoseinstrumenten und der Sichtbarkeit für Autismus bei Frauen.
Ein wichtiger Beitrag zur Sichtbarkeit von Autismus bei Frauen kommt auch aus unserem eigenen Haus: Unsere fachliche Leitung, Dipl. Psych. Cristina Cretulescu, hat zu diesem Thema ein aufschlussreiches Interview gegeben. Darin spricht sie über die Herausforderungen in der Diagnostik, ihre persönlichen Erfahrungen aus der Praxis sowie die Bedeutung einer geschlechtersensiblen Perspektive auf das Autismus-Spektrum.
Hier geht’s zum Interview: https://www.welt.de/vermischtes/plus254681444/Je-laenger-jemand-mit-unerkanntem-Autismus-lebt-umso-hoeher-ist-die-Gefahr-von-Depressionen.html
Quellen:
- https://www.autism.org.uk/advice-and-guidance/topics/identity/autistic-women-and-girls
- https://www.uclahealth.org/news/article/understanding-undiagnosed-autism-adult-females
- https://www.oxfordcbt.co.uk/female-autism-checklist/
- https://d1wqtxts1xzle7.cloudfront.net/108705274/Asperger_201906_E2_80_931980_20and_20Kanner_201894_E2_80_931981_20the_20two_20pioneers_20of_20autism_20-_202007_20-_20Lyons_20-_20JADD_t-libre.pdf?1702261695=&response-content-disposition=inline%3B+filename%3DAsperger_1906_1980_and_Kanner_1894_1981.pdf&Expires=1744278135&Signature=QfucSB6-r~Qkl4yewWj9pky1GPb1Q9Oo4XsWCfvVDTfEOKG2EqID~X7rOzqoCaeEEYexn2DDsWx5qL9mdWERLccGsB2vwl7jQQzEy9a6Iv14UmdfYAO80nNS1mq9yIfTKQeoN6S60c5N8kcXaTueuWY71bNWiGZr5C9U7dRybls~DHoqAMUJmJbMoRXgxXBBGI-3qoWiRELwHC93aCtaC8swsTbIzkcv35rabmTa4ZSRw9McUunz5ez7GY3dFH3IJ4noGDxBajilEAmSjslKwPVkk9V-FcjKF0xneequCwvj~BFeJCg2gVBnFgYe4sHiwXL2TtwfDELYleGcWsB9Kg__&Key-Pair-Id=APKAJLOHF5GGSLRBV4ZA