ASS
Autismus im Spektrum: Erkennen der Vielfalt
Autismus ist nicht gleich Autismus. Es muss, wie die vollständige Beschreibung, „Autismus-Spektrum-Störung“ (ASS), schon besagt, als Spektrum verstanden werden. Die neurobiologischen Unterschiede, die dadurch entstehen, werden im Sinne der Neurodiversität als natürliche Formen der menschlichen Diversität betrachtet. In der neurodiversitätsorientierten Sichtweise wird ASS nicht als eine Krankheit oder Störung betrachtet, die geheilt oder behoben werden muss, sondern als eine legitime Form menschlicher Variation. Das Konzept der Neurodiversität wendet sich damit bewusst gegen eine pathologische Betrachtung des Autismus.
Trotz dieser zunehmenden Anerkennung von Autismus als Teil der menschlichen Vielfalt besteht weiterhin die Notwendigkeit einer klaren Klassifizierung und Diagnosestellung, um angemessene Unterstützung und Behandlung zu ermöglichen. In diesem Zusammenhang bietet der ICD 11 eine aktualisierte und differenziertere Klassifikation von Autismus, die die Vielfalt der Symptome und Ausprägungen berücksichtigt und dadurch eine präzisere Diagnose und Behandlung ermöglicht.
Der „International Classification of Diseases“ (ICD) ist ein internationales Klassifikationssystem, das von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelt wurde und weltweit verwendet wird, um medizinische Diagnosen und Krankheiten zu klassifizieren und zu kodieren. Es wird regelmäßig aktualisiert, um neue medizinische Erkenntnisse und Entwicklungen miteinzubeziehen und den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft widerzuspiegeln.
ICD 11 ist die aktuelle Version und unterscheidet sich in einigen wichtigen wesentlichen Aspekten von seinem Vorgänger, dem ICD 10.
Eine Klassifikation im Sinne genau definierter Subtypen, wie im ICD 10, ist weitgehend obsolet, da allgemein angenommen wird, dass es einen fließenden Übergang zwischen den früher im ICD-10 umschriebenen Autismus-Subtypen sowie zwischen Autismus und Nicht-Autismus gibt. Dennoch werden in der klinischen Praxis bzw. in der medizinischen Umgangssprache teilweise noch die alten Subtypen verwendet, weshalb es Sinn macht, diese hier zum Verständnis noch einmal aufzuführen und in den Vergleich zur aktuellen Ausgabe, dem ICD 11, zu setzen.
ICD 10:
Unter der ICD 10 wurde Autismus unter der Kategorie "Tiefgreifende Entwicklungsstörungen" klassifiziert und in drei Haupttypen unterteilt:
F84.0 - Frühkindlicher Autismus:
Frühkindlicher Autismus ist durch das Auftreten von Symptomen vor dem dritten Lebensjahr gekennzeichnet und wird auch als Kanner-Autismus, Kanner-Syndrom oder infantiler Autismus bezeichnet. Im Vergleich zum Asperger-Syndrom kann er früher erkannt werden und ist mit einer Verzögerung der Sprachentwicklung verbunden, die durch Echolalien (automatische, zwanghafte Nachahmung und Wiederholung von Gehörtem ("Papageiensprechen")), Neologismen (Wortneuschöpfungen) und Iterationen (Wiederholung von Gehörten, zeitlich unabhängig) gekennzeichnet ist. Etwa 30 % der Betroffenen sind nicht in der Lage, gesprochene Sprache zu entwickeln. Im Gegensatz zum Asperger-Syndrom kann beim frühkindlichen Autismus die Intelligenz beeinträchtigt sein. Typischerweise zeigen sich die Symptome des frühkindlichen Autismus ab dem 10. bis 12. Lebensmonat. Abhängig vom Ausmaß der Einschränkungen kann der frühkindliche Autismus in zwei weitere Subtypen unterteilt werden: niedrigfunktionaler Autismus (LFA) und hochfunktionaler Autismus (HFA).
Der niedrigfunktionale Autismus (LFA, low functioning autism) ist durch eine erheblichere Ausprägung der oben genannten Symptome und eine verminderte Intelligenz gekennzeichnet. Es ist jedoch nicht ungewöhnlich, dass die klinische Diagnose fehlerhaft ist, da eine erhebliche Verzögerung der Sprachentwicklung fälschlicherweise zu einer Unterschätzung der Intelligenz führen kann. Ein frühkindlicher Autismus mit normaler oder überdurchschnittlicher Intelligenz wird als hochfunktionaler Autismus (HFA, high functioning autism) bezeichnet. Dieser wird im Autismusspektrum zwischen Nichtautismus und niedrigfunktionalem Autismus (LFA) eingeordnet. Bei Erwachsenen mit HFA ist es oft schwierig, sie von Personen mit Asperger-Syndrom zu unterscheiden, obwohl die autistischen Symptome ausgeprägter sind als beim Asperger-Syndrom. Es kann auch bei stark eingeschränkter Sprachentwicklung ein HFA vorliegen, wobei die Betroffenen in der Lage sein können, sich schriftlich auszudrücken.
F84.1 - Atypischer Autismus:
Diese Kategorie wurde für Fälle von Autismus verwendet, bei denen die Symptome weniger ausgeprägt sind oder die nicht alle Kriterien für frühkindlichen Autismus, beispielsweise das Manifestationsalter, erfüllen, aber dennoch signifikante Beeinträchtigungen in den Bereichen soziale Interaktion, Kommunikation und Verhalten aufweisen.
F84.5 - Asperger-Syndrom:
Das Asperger-Syndrom wurde als eigenständige Kategorie in der ICD 10 aufgeführt und war durch Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion und ungewöhnliche Verhaltensmuster gekennzeichnet, jedoch ohne Verzögerungen in der sprachlichen Entwicklung oder eine verzögerte kognitive Entwicklung. Das Asperger-Syndrom tritt in Einzelfällen mit überdurchschnittlicher Intelligenz oder Inselbegabungen auf.
ICD 11:
Unter der ICD 11 wurde die Klassifikation von Autismus aktualisiert. Die oben genannten Diagnosen werden jetzt unter dem Oberbegriff "Autismus-Spektrum-Störungen" (ASS) zusammengefasst. Das gesamte Spektrum wird mit einer Diagnose abgedeckt und als „neurologische Entwicklungsstörung“ klassifiziert, wobei verschiedene Ausprägungen und Schweregrade der Störung berücksichtigt werden. Hier sind einige wichtige Änderungen im Vergleich zur ICD 10:
- Einschließlich aller Subtypen in einem Spektrum: Die ICD 11 erfasst Autismus als Spektrum von Störungen, was bedeutet, dass alle früheren Subtypen wie frühkindlicher Autismus, atypischer Autismus und Asperger-Syndrom jetzt innerhalb dieses Spektrums berücksichtigt werden.
- Beachtung der Schweregrade und Funktionsniveaus: Die ICD 11 ermöglicht die Erfassung von Schweregraden und Funktionsniveaus innerhalb des Autismus-Spektrums, um die Vielfalt der Symptome und Auswirkungen auf das tägliche Leben besser zu berücksichtigen. Es werden dabei zwei wesentliche Aspekte spezifiziert, wenn die Diagnose gestellt wird: Intelligenz und Sprache. Dies hilft dabei, individuelle Unterschiede zu erfassen und eine präzisere Diagnose und Behandlung zu ermöglichen.
- Integration von Verwandten Störungen: Die ICD 11 integriert auch verwandte Störungen wie das „Rett-Syndrom“ und Desintegrative Störungen des Kindesalters in das Autismus-Spektrum, um die diagnostische Präzision und die klinische Anwendung zu verbessern.
- Einige Kriterien, die sich speziell auf Kinder bezogen, wurden angepasst, wie zum Beispiel das Kriterium "funktionales oder symbolisches Spielen". Diese Anpassung ist wichtig, da die Diagnose von Autismus nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Erwachsenen gestellt wird. Diese haben nicht zwingend Eltern, die über ihre Kindheit Auskunft geben könnten.
Insgesamt ermöglicht die Aktualisierung der Klassifikation im ICD 11 eine differenziertere und umfassendere Beschreibung von Autismus und trägt dazu bei, die Diagnose und Behandlung zu verbessern sowie die Forschung und das Verständnis in diesem Bereich voranzutreiben.