ADHS im Sinne der Neurodiversität: Zwischen Störung und Andersartigkeit

ADHS im Sinne der Neurodiversität: Zwischen Störung und  Andersartigkeit

ADHS, kurz für Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, wird oft mit Ablenkbarkeit, Impulsivität und Hyperaktivität in Verbindung gebracht. Doch jenseits der gängigen Wahrnehmung als Störung gibt es eine vielschichtige Perspektive auf ADHS als Teil der neurodiversen Landschaft unserer Gesellschaft. In diesem Blogbeitrag werden wir den Spagat zwischen der Definition als Störung und der Betrachtung von ADHS als Ausdruck neuronaler Vielfalt, den gesellschaftlichen Einflüssen auf die Wahrnehmung von ADHS und die Stigmatisierung der neurologischen Besonderheiten beleuchten. Auch einige positive Aspekte sowie Herausforderungen möchten wir aufzeigen.

Störung vs. Andersartigkeit: Die klassische Sichtweise von ADHS als Störung ist durch die Klassifizierung im ICD-10 ("International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems"), primär durch Defizite in der Aufmerksamkeit, Impulsivität und motorischer Unruhe, festgehalten. Je nach Ausprägung der Symptome und Passung mit der Umwelt kann der Leidensdruck erhebliche Ausmaße annehmen.

Zunehmend wird ADHS jedoch auch als Ausdruck einer neurodiversen Welt verstanden, in der unterschiedliche neuronale Verknüpfungen eine breite Palette von Verhaltensweisen und Denkweisen hervorbringen. Die Wahrnehmung von ADHS als Teil der menschlichen Vielfalt und nicht nur als pathologische Abweichung eröffnet neue Perspektiven und Ansätze für die Unterstützung von Betroffenen.

Im Laufe der Geschichte hat die Gesellschaft einen erheblichen Einfluss auf die Festlegung dessen, was als Störung betrachtet wird. Die Definitionen von Störungen wurden oft durch kulturelle Normen, soziale Erwartungen und politische Interessen geprägt. Beispielsweise wurden in früheren Zeiten Verhaltensweisen, die von den gesellschaftlichen Normen abwichen oder als ungewöhnlich empfunden wurden, oft als Störungen oder geistige Krankheiten betrachtet. Im Laufe der Zeit haben sich die Vorstellungen darüber, was als normal oder abweichend betrachtet wird, verändert, was sich auch auf die Definitionen und Wahrnehmungen von Störungen ausgewirkt hat. Gesellschaftliche Veränderungen, wie die Einführung von Bildungs- und Beschäftigungsnormen, haben dazu beigetragen, dass bestimmte Verhaltensweisen als störend oder abweichend betrachtet wurden, während andere als akzeptabel galten. Darüber hinaus haben auch wissenschaftliche Entwicklungen und Fortschritte im Verständnis von Psychologie und Neurologie dazu beigetragen, die Definitionen und Klassifikationen von Störungen im Laufe der Geschichte zu verändern. Neue Erkenntnisse über die Ursachen und Mechanismen von Verhaltensweisen haben dazu geführt, dass einige Zustände neu kategorisiert wurden oder dass neue Störungen identifiziert wurden.

Die Wahrnehmung von ADHS wird ebenfalls stark von gesellschaftlichen Normen und Erwartungen geprägt. In einer Welt, die oft nach Effizienz und Konzentration strebt, können Menschen mit ADHS Schwierigkeiten haben, sich anzupassen. Die Etablierung von Standards in Bildung, Arbeit und sozialem Leben kann zu einem erhöhten Leidensdruck und einer Stigmatisierung von Menschen mit ADHS führen, da Abweichungen von der Norm oft als negativ bewertet werden. Aktuell wird die ADHS als Störung angesehen, da klinische Merkmale definiert wurden, neuronale Unterschiede festgestellt werden konnten und in vielen Fällen auch ein Behandlungserfordernis vorliegt, wenn die Lebensqualität beeinflusst wird. Immer mehr wird jedoch auch eine erweiterte Sichtweise diskutiert, welche im Folgenden erläutert wird.

Neurodivergenz und positive Aspekte: Neben den negativen Auswirkungen bestehen auch positive Aspekte von ADHS, die oft übersehen werden. Menschen mit ADHS können oft kreativer denken, innovative Problemlösungen auftun und hochenergetische Persönlichkeiten sein. Ihre Fähigkeit, schnell zu denken und sich in verschiedenen Bereichen zu engagieren, kann zu bemerkenswerten Leistungen führen. Die Betrachtung von ADHS als Ausdruck von Neurodivergenz- eine alternative Reizverarbeitung im Gehirn und Reaktion darauf- eröffnet Raum für die Wertschätzung der einzigartigen Fähigkeiten und Perspektiven von Betroffenen.

Stigmatisierung und Herausforderungen: Trotz der positiven Aspekte stehen Menschen mit ADHS oft vor erheblichen Herausforderungen durch Defizite in verschiedenen Bereichen. Typischerweise sind Aufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität anders ausgeprägt als bei neurotypischen Menschen. Die Symptome von ADHS sind sehr individuell und können in allen Lebensbereichen zu Schwierigkeiten oder Konflikten führen. Zusätzlich kommt es leider immer noch häufig zu einer stigmatisierten Wahrnehmung in der Gesellschaft. Der Umgang mit Vorurteilen, Diskriminierung und dem Druck, sich anzupassen, kann zu einem erhöhten Leidensdruck führen und die Lebensqualität beeinträchtigen. Es ist wichtig, die vielschichtigen Bedürfnisse und Herausforderungen von Menschen mit ADHS anzuerkennen und Unterstützung zu bieten, die ihre individuellen Stärken und Schwächen berücksichtigt. Die Etikettierung als „gestört“ kann in den Betroffenen Gefühle der Minderwertigkeit hervorrufen und sich negativ auf Selbstwert und Selbstwirksamkeit auswirken. Es ist wichtig, Menschen mit ADHS nicht auf ihre Andersartigkeit zu reduzieren.

ADHS im Sinne der Neurodiversität gilt als komplexes Phänomen, das sowohl Störung als auch Ausdruck von neuronaler Vielfalt sein kann. Die gesellschaftliche Wahrnehmung von ADHS beeinflusst maßgeblich den Umgang mit dieser Besonderheit. Durch eine breitere Anerkennung und Wertschätzung von Menschen mit ADHS als Teil der menschlichen und neuronalen Vielfalt können wir dazu beitragen, die Lebensqualität von Betroffenen zu verbessern und eine inklusivere Gesellschaft zu schaffen. Eine Gesellschaft, in der Andersartigkeit ohne Wertung betrachtet werden kann und Unterstützung angeboten wird, wenn diese gewünscht ist.