AD(H)S
ADHS UND ADS- EIN ÜBERBLICK
Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS) sind neurobiologische Phänomene, die nicht nur Kinder und Jugendliche betreffen, sondern oft bis in das Erwachsenenalter fortbestehen. Während sich die ADHS besonders durch eine Kombination von Aufmerksamkeitsproblemen, Hyperaktivität und Impulsivität auszeichnet, wird ADS heutzutage als eine Variante der ADHS angesehen, bei welcher die Hyperaktivität weniger ausgeprägt vorliegt.
Die Symptome und ihre Ausprägung sind vielfältig und somit zeigt sich das Erscheinungsbild von Person zu Person einzigartig. Im Folgenden beschreiben wir die Diagnosekriterien nach dem ICD 10 („International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“) sowie die typischen Symptome.
Aufmerksamkeitsdefizite äußern sich in der Regel durch eine leichte Ablenkbarkeit, der Schwierigkeit Konzentration aufrecht zu halten und Flüchtigkeitsfehler.
Die bei ADHS ausgeprägte Hyperaktivität zeigt sich durch eine erhöhte innere als auch körperliche Unruhe. Häufig fällt es Betroffenen schwer, längere Phasen stillzusitzen sowie sich zu entspannen. Auch können sie sich teilweise nicht situationsangemessen verhalten.
Impulsivität wird durch Entscheidungsverhalten ohne angemessenes Abwägen der Konsequenzen deutlich. Zudem fällt das Warten in verschiedenen Kontexten schwer. Neben den Hauptkriterien der AD(H)S liegen weitere Begleitsymptome vor. Dazu zählen häufig desorganisiertes Verhalten, wie das Springen zwischen Aufgaben, ohne die angefangenen Aufgaben zu beenden, Vergesslichkeit und die Unfähigkeit eine Zeiteinteilung zu erstellen und sich daranzuhalten, was häufig dazu führt, dass alles in letzter Minute erledigt wird oder Termine nicht eingehalten werden können.
Des Weiteren zeigen Betroffene von AD(H)S häufig eine emotionale Instabilität, welche sich durch häufige Stimmungsschwankungen äußert.
Die Aspekte der AD(H)S zeigen sich in verschiedenen Lebensbereichen und können zu Teilen auch eine positive Wirkung haben, wie eine gesteigerte Kreativität, Mut, Spontanität, Offenheit für Neues und häufig auch viel Energie. Eine intensivere Gefühlswelt, auch in die positive Richtung, wird von Betroffenen berichtet. Wenn in einem Bereich das Interesse so hoch ist, dass ein sogenannter Hyperfokus entsteht, dann ist es auch möglich, Experte auf einem Gebiet zu werden.
Jedoch erschweren die meisten Symptome den Alltag auch auf eine negative Art und Weise. Routineaufgaben können zu Mammutaufgaben werden und im Beruf kommt es häufig zu Arbeitsplatzwechseln oder Arbeitslosigkeit, da das Interesse verloren geht oder die Vergesslichkeit und der chaotische Arbeitsstil zum Verhängnis werden. Impulsivität und Wutausbrüche können in allen Bereichen zu Konflikten führen, und auch die Unaufmerksamkeit wird von neurotypischen Menschen fälschlicherweise als Desinteresse eingeordnet, was zu Konflikten führen kann.
Um mit den Herausforderungen der AD(H)S umgehen zu können, hat sich die Kombination aus einer kognitiven Verhaltenstherapie und einer medikamentösen Behandlung als effizient erwiesen.
Obwohl AD(H)S nicht als heilbar gilt, können Symptome und Probleme reduziert werden, indem hilfreiche Strategien entwickelt und mögliche individuelle Stärken noch gesteigert werden. Bereits eine Psychoedukation, also das Aufklären über die Krankheit, kann zu einem besseren Verständnis für Betroffene und auch Angehörige führen. Selbsthilfegruppen, Achtsamkeitsübungen und sportliche oder kreative Tätigkeiten können bei der Alltagsbewältigung zuträglich sein.
Für eine Diagnosestellung durch einen Experten müssen neben den Hauptkriterien der Aufmerksamkeitsstörung, der Hyperaktivität und der Impulsivität auch weitere Zusatzkriterien erfüllt werden: Die Verhaltensweisen müssen
- in mehr als einem Lebensbereich auftreten,
- als belastend erlebt werden,
- länger als sechs Monate andauern
- und bereits vor dem sechsten Lebensjahr aufgetreten sein.
Außerdem ist eine differenzialdiagnostische Abklärung vorgeschrieben, um sicherzugehen, dass die Symptome nicht besser durch eine andere Krankheit erklärbar wären.
Die Entstehung der AD(H)S ist nicht abschließend erforscht, bis dato wird primär von einem Zusammenspiel der starken neurologischen Komponente, welche genetisch häufig weitergegeben wird, und Umweltfaktoren ausgegangen. Vordergründig wird das Ungleichgewicht in bestimmten Neurotransmittersystemen, insbesondere im dopaminergen System, untersucht, da dieses eine wichtige Rolle spielt. Dieses Ungleichgewicht kann dazu führen, dass bestimmte Gehirnbereiche, die für die Aufmerksamkeitssteuerung, Impulskontrolle und Verhaltensinhibition wichtig sind, nicht optimal funktionieren.
Umweltfaktoren können ebenfalls zur Entstehung von ADHS beitragen. Pränatale Exposition gegenüber Nikotin, Alkohol oder bestimmten Chemikalien während der Schwangerschaft sowie Geburtskomplikationen können das Risiko für die Entwicklung von ADHS erhöhen. Frühkindliche Belastungen, wie Vernachlässigung, Traumata oder instabile familiäre Verhältnisse, können ebenfalls als Risikofaktoren angesehen werden. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass ADHS keine Folge von schlechter Erziehung oder einem Mangel an Disziplin ist. Es handelt sich vielmehr um eine komplexe Störung, die durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst wird.
Ein Großteil der Menschen mit AD(H)S haben eine oder mehrere komorbide Störungen. Die Komorbidität bezieht sich auf das Phänomen, bei dem eine Person gleichzeitig eine oder mehrere psychische Störungen oder Erkrankungen hat. Dies kann die Behandlung und das Management der Erkrankung komplexer gestalten. Zu den häufigsten komorbiden Störungen bei ADHS gehören:
- Depressionen: Etwa 40-60 % der Menschen mit ADHS erleben im Laufe ihres Lebens auch depressive Episoden. Die Symptome von Depressionen können die Symptome von ADHS verstärken und die Lebensqualität weiter beeinträchtigen.
- Angststörungen: Zwischen 20-60 % der Menschen mit ADHS haben auch eine Angststörung, wie zum Beispiel Generalisierte Angststörung, Soziale Angststörung oder Panikstörung. Die Angstsymptome können die Aufmerksamkeit und Konzentration weiter beeinträchtigen.
- Suchterkrankungen: Etwa 50-60 % der Menschen mit ADHS haben Probleme mit Suchtverhalten, einschließlich Alkohol-, Drogen- oder Nikotinmissbrauch. Dies kann auf den Versuch zurückzuführen sein, die Symptome von ADHS selbst zu behandeln oder die emotionale Belastung zu bewältigen, die mit der Erkrankung einhergeht.
- Oppositionelle Verhaltensstörung (ODD) und Störungen des Sozialverhaltens (CD): Diese Störungen treten häufig bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS auf und können zu Konflikten mit Autoritäten, Schwierigkeiten in sozialen Beziehungen und anderen Verhaltensproblemen führen.
- Lernstörungen: Viele Menschen mit ADHS haben auch Lernschwierigkeiten, wie Lese- oder Rechtschreibstörungen, Rechenstörungen oder andere spezifische Lernstörungen.
Die Komorbidität von ADHS kann die Diagnose und Behandlung erschweren, da sich die Symptome der verschiedenen Störungen gegenseitig beeinflussen können. Eine umfassende Bewertung und ein individualisierter Behandlungsplan, der auf die spezifischen Bedürfnisse und Herausforderungen einer Person zugeschnitten ist, sind daher entscheidend. Dies kann die Kombination von Medikamenten, Psychotherapie, Verhaltenstherapie, Unterstützung durch Familienmitglieder und Lehrpersonen sowie andere unterstützende Maßnahmen umfassen. Ein ganzheitlicher Ansatz, der sowohl die ADHS-Symptome als auch die komorbiden Störungen anspricht, kann dazu beitragen, die Lebensqualität zu verbessern und die Funktionsfähigkeit zu erhöhen.
Trotz der Herausforderungen, die ADHS mit sich bringen kann, ist es wichtig zu wissen, dass Hilfe verfügbar ist und es möglich ist, ein erfülltes und produktives Leben zu führen. Mit der richtigen Unterstützung- sei es durch medizinische Behandlung, Therapie, Selbstmanagement-Techniken oder das Verständnis und die Unterstützung von Familie und Freunden- können Menschen mit ADHS ihre Stärken entfalten und ihre Ziele erreichen.
Jeder Schritt, den man auf dem Weg zur Bewältigung von ADHS macht, ist ein Schritt in Richtung Selbstverwirklichung und persönlichem Wachstum. Es ist wichtig, geduldig und einfühlsam mit sich selbst umzugehen und sich daran zu erinnern, dass man nicht allein ist. Es gibt eine Gemeinschaft von Menschen, die ähnliche Herausforderungen bewältigen, und gemeinsam kann man einander unterstützen und ermutigen, neue Wege zu gehen.
Woran erkenne ich AD(H)S bei mir?
ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) und ADS (Aufmerksamkeitsdefizitstörung) sind neurobiologische Phänomene, die sich durch eine Vielzahl von Symptomen auszeichnen. Die Erkennung dieser Syndrome bei sich selbst erfordert ein Bewusstsein für die charakteristischen Anzeichen und eine genaue Selbstreflexion über das eigene Verhalten und Erleben. Die folgenden Informationen dienen der Aufklärung, nicht der Selbstdiagnose. Sollten Sie sich in dem Symptombild der AD(H)S wiederfinden, wenden Sie sich für eine professionelle Abklärung an Experten.
Ein häufiges Symptom von ADHS/ADS ist eine eingeschränkte Aufmerksamkeitsspanne. Personen mit dieser Störung können Schwierigkeiten haben, ihre Aufmerksamkeit über einen längeren Zeitraum auf eine bestimmte Aufgabe oder Aktivität zu konzentrieren. Sie können sich leicht ablenken lassen und haben oft Probleme, ihre Gedanken zu organisieren und ihre Zeit effektiv zu nutzen. Auch in Gesprächen oder beim Lesen schweifen die Gedanken ab und es entsteht ein Zustand der Geistesabwesenheit.
Hyperaktivität ist ein weiteres häufiges Merkmal von ADHS, welches sich durch einen übermäßigen Bewegungsdrang, Unruhe und einem ständigen Gefühl der Getriebenheit äußert. Bei Erwachsenen kann sich Hyperaktivität jedoch auch anders manifestieren, z. B. als innere Unruhe oder das Gefühl, ständig beschäftigt sein zu müssen. Viele Betroffene beschreiben das Gefühl als ein „Chaos im Kopf“ oder ein Kopf, der nie still wird. Dementsprechend fällt wirkliche Entspannung oft schwer. Aber auch das Arbeiten am Schreibtisch über eine längere Phase wird als anstrengend oder unmöglich empfunden. Häufig wird dem Bewegungsdrang durch Wippen mit dem Fuß, ständigem Wechseln der Körperposition oder Handbewegungen Luft gemacht.
Auch Impulsivität zählt zu den Hauptkriterien der AD(H)S und äußert sich in spontanen Handlungen oder Kommentaren, ohne ausreichend über die Konsequenzen nachzudenken. Beispielsweise werden Gespräche unterbrochen, weil mit den eigenen Gedanken herausgeplatzt wird, oder eine Lebensentscheidung, wie ein Umzug in eine andere Stadt wird ohne Planung aus dem Bauch heraus entschieden. Nicht selten kommt es zu impulsiven Käufen, die später als unüberlegt eingestuft werden und auch zu finanziellen Problemen führen können. Wie bereits angedeutet, besteht oft eine erhöhte Ungeduld, wodurch auch Wartesituationen an Supermarktkassen, Ampeln oder Bahnsteigen quälend sein können.
Ein weiteres Anzeichen von ADHS/ADS können Probleme mit der Selbstorganisation sein. Betroffene können Schwierigkeiten haben, Termine einzuhalten, Aufgaben zu planen und zu erledigen. Sie neigen möglicherweise dazu, Dinge aufzuschieben, zwischen angefangenen Aufgaben hin und her zu springen, ohne eine Aufgabe tatsächlich zu beenden. Sie sind oft vergesslich und verlieren oder verlegen Gegenstände wie Schlüssel, Portemonnaie oder Telefon.
Des Weiteren sind schnelle Stimmungsschwankungen in den positiven und negativen Bereichen typisch. So können Phasen der Angetriebenheit mit erhöhtem Redebedarf und Phasen mit starken Selbstzweifeln und Trauer regelmäßiger Bestandteil des Lebens mit ADHS sein. Auch Wutausbrüche über vermeintliche Kleinigkeiten und eine generell leichte Reizbarkeit können Symptome der AD(H)S sein.
Interessant ist der sogenannte Hyperfokus, ein Zustand, der bei einigen Menschen mit ADHS auftritt und sich durch eine übermäßige Konzentration auf eine bestimmte Aufgabe, Aktivität oder Interesse manifestiert. Im Gegensatz zur typischen Schwierigkeit von Menschen mit ADHS, ihre Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten und von einer Aufgabe zur anderen zu springen, erleben sie während des Hyperfokus eine intensive und anhaltende Konzentration auf eine einzige Aktivität. Während des Hyperfokus können betroffene Personen oft stundenlang an einer Aufgabe arbeiten, ohne sich der Zeit bewusst zu sein oder Ablenkungen wahrzunehmen. Sie können in dieser Phase äußerst produktiv sein und zeigen oft ein hohes Maß an Leistungsfähigkeit und Kreativität. Für betroffene Personen kann Hyperfokus sowohl positive als auch negative Auswirkungen haben. Auf der positiven Seite ermöglicht es ihnen, komplexe Aufgaben effektiv zu bewältigen und herausragende Leistungen zu erbringen. Es kann auch ein Gefühl der Erfüllung und Zufriedenheit bringen, da sie in der Lage sind, in ihrem Element zu sein und ihre Fähigkeiten voll auszuschöpfen. Auf der negativen Seite kann Hyperfokus dazu führen, dass betroffene Personen andere wichtige Aufgaben vernachlässigen oder so stark in ihre Aktivität vertieft sind, dass sie ihre Bedürfnisse nach Schlaf, Ernährung oder sozialer Interaktion ignorieren. Dies kann zu einem Ungleichgewicht im Leben führen und langfristig zur Erschöpfung oder Überlastung führen.
Es ist wichtig zu beachten, dass nicht alle Symptome bei jedem Betroffenen gleich stark ausgeprägt sind. Einige Personen können mehr unter Aufmerksamkeitsproblemen leiden, während andere stärker von Hyperaktivität betroffen sind. Zudem können sich die Symptome im Laufe des Lebens verändern und sich bei Erwachsenen oft anders zeigen als bei Kindern, da die Anforderungen sich über die Lebensspanne stetig verändern.
Wenn Sie vermuten, dass Sie an ADHS/ADS leiden könnten, ist es ratsam, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Fachärzte, wie Psychiater oder Neurologen, sowie Psychotherapeuten und Psychologen, können eine umfassende Diagnostik durchführen und eine angemessene Behandlung empfehlen. Eine frühzeitige Diagnose und Behandlung können dazu beitragen, die Symptome zu lindern und den Betroffenen zu einem besseren Umgang mit ihrer Störung zu verhelfen.
Selbsttests für ADHS, die online verfügbar sind, können als erste Anlaufstelle für Personen dienen, die sich Sorgen um mögliche Symptome der Störung machen. Allerdings sollten diese Tests nicht als alleiniges Diagnoseinstrument betrachtet werden, da sie mehrere Einschränkungen aufweisen, die eine zuverlässige Einschätzung erschweren. Viele Online-Selbsttests sind nicht standardisiert und validiert, was bedeutet, dass ihre Zuverlässigkeit und Validität nicht ausreichend geprüft wurden. Ohne eine solide wissenschaftliche Validierung können die Ergebnisse dieser Tests ungenau oder irreführend sein. Außerdem können Selbsttests für ADHS nicht das Fachwissen und die Erfahrung einer qualifizierten Fachperson ersetzen. Selbsttests können dazu neigen, falsch positive oder falsch negative Ergebnisse zu liefern, was bedeutet, dass sie entweder eine Störung fälschlicherweise diagnostizieren oder sie übersehen können. Dies kann zu unnötiger Angst oder zur Verzögerung der notwendigen Behandlung führen. Ferner besteht die Gefahr, dass Selbsttests dazu führen können, dass Menschen sich selbst diagnostizieren und sich aufgrund von ungenauen Informationen über ihre Symptome Sorgen machen oder unangemessene Maßnahmen ergreifen, wie den Einsatz von Medikamenten ohne ärztliche Aufsicht.
Abschließend ist es wichtig, dass eine qualifizierte Fachperson eine umfassende Evaluation durchführt und eine angemessene Behandlung empfiehlt, die auf den individuellen Bedürfnissen basiert.
Wahrheiten und Mythen über ADHS und ADS
Es kursieren Mythen über AD(H)S, von denen viele bereits durch wissenschaftliche Forschung widerlegt wurden. Einige möchten wir hier beschreiben, um das Verständnis für die Störung zu verbessern und gegen die Stigmatisierung von betroffenen Menschen vorzugehen.
1. Mythos: „ADHS haben nur Kinder“
Obwohl ADHS für eine Diagnosestellung bereits in der Kindheit erkennbar gewesen sein muss, ist sowohl das Vorhandensein als auch die Stellung einer AD(H)S-Diagnose im Erwachsenenalter möglich. Denn häufig bleiben die Symptome der ADHS über die Lebensspanne bestehen, obwohl sich die Symptomausprägungen über die Lebensspanne verändern können. Der Leidensdruck kann auch bei Erwachsenen mit AD(H)S ein enormes Aufmaß annehmen.
2. Mythos: „ADHS ist eine Folge von schlechter Erziehung oder mangelnder Disziplin“
ADHS hat eine neurobiologische Grundlage und ist nicht alleinig das Ergebnis eines herausfordernden Elternhauses. Jedoch können Erziehungsdefizite und das Missverständnis der AD(H)S die Symptomatik bei dem betroffenen Kind beeinflussen und zur Aufrechterhaltung beitragen. Den häufigen Vorwurf von Betroffenen und Angehörigen bezüglich mangelnder Selbstdisziplin gilt es genauer zu betrachten, um aufzudecken, warum es zu Defiziten in der Selbstregulation und Selbststeuerung kommt. Nachweislich ist das Frontalhirn für viele Aufgaben zuständig, bei denen Menschen mit AD(H)S Schwierigkeiten aufweisen. Unter anderem zählen die Impulskontrolle, Definierung von Handlungsplänen und Prioritäten, die Aufmerksamkeitssteuerung, alle Schritte der Aufgabenbearbeitung und die Gefühlsregulation dazu. Wie durch neurologische Untersuchungen festgestellt werden konnte, arbeitet das Gehirn von Betroffenen mit AD(H)S anders, weshalb es ihnen häufig tatsächlich nicht möglich ist, ihr Leben wie neurotypische Menschen zu leben. Vorwürfe führen lediglich zu Druck und Stress, wodurch das Frontalhirn noch eingeschränkter arbeitet. Psychoedukation kann den Betroffenen und ihrem Umfeld helfen, einen besseren Umgang mit der Diagnose und den täglichen Einflüssen umzugehen.
3. Mythos: „ADHS betrifft nur Jungen“
Mädchen können genauso von ADHS betroffen sein wie Jungen, auch wenn das Geschlechterverhältnis im Kindesalter zeigt, dass Jungen mindestens doppelt so häufig betroffen sind. Im Erwachsenenalter wird das Geschlechterverhältnis etwas ausbalancierter, jedoch sind Männer in einem Verhältnis von 1,6:1 weiterhin häufiger betroffen als Frauen. Da die Hyperaktivität bei Mädchen und Frauen häufig weniger stark ausgeprägt ist, wird eine AD(H)S bei ihnen häufig lange Zeit nicht erkannt. Dazu kommt, dass die Diagnosekriterien zur Feststellung einer ADHS primär an männlichen Studienteilnehmern erforscht wurden. Auch werden typische AD(H)S-Symptome bei Jungen deutlich eher als solche erkannt, während die Symptome bei Mädchen und Frauen unterschätzt werden. Die Sozialisierung ist ein wichtiger Faktor, der Mädchen dazu veranlassen kann, ihre Symptome zu unterdrücken, weshalb der Leidensdruck nicht geringer ausfallen muss.
4. Mythos: „Kinder werden nur wegen ihrer Lebhaftigkeit mit ADHS diagnostiziert.“
Die Diagnose von ADHS erfordert weit mehr als nur die Beobachtung hyperaktiven Verhaltens. Eine sorgfältige Bewertung von verschiedenen Symptomen, darunter Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität, sollte durch multiple Methoden umfassend untersucht werden. Zum Einsatz kommen in der Regel standardisierte Fragebögen, welche sowohl von Personen des engen Umfeldes als auch der betroffenen Person ausgefüllt werden. Besonders das strukturierte klinische Interview, welches anhand der ICD-10 und DSM-5 Kriterien erstellt wurde, spielt eine wichtige Rolle. Es sollte von Experten auf dem Gebiet durchgeführt werden und ermöglicht eine kriterienorientierte Diagnosestellung. Die Grundschulzeugnisse werden auf Hinweise für und gegen eine Diagnose geprüft.
5. Mythos: „Medikamente sind die einzige Behandlungsoption für ADHS.“
Medikamente können nachweislich sehr effektiv sein und werden oft als ein sehr wichtiger Teil der Behandlung angesehen. Darüber hinaus gibt es weitere Maßnahmen wie Verhaltenstherapie, Psychoedukation und andere unterstützende Maßnahmen wie Achtsamkeitstraining und Qigong, die zu einer Steigerung der Lebensqualität Betroffener beitragen können. Zu beachten ist, dass nicht alle Betroffenen unter ihrer AD(H)S leiden oder eine Medikation wünschen. Bei einem Leidensdruck jeglicher Intensität kann eine medikamentöse Behandlung und der damit ausgeglichenere Dopaminspiegel im Gehirn zu einer enormen Erleichterung führen, jedoch sollte eine passende Behandlung der AD(H)S individuell mit Experten ausgearbeitet werden.
Warum uns das Aufklären der Mythen so wichtig ist:
Die Aufklärung über Mythen im Zusammenhang mit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) ist von entscheidender Bedeutung, um eine korrekte Wahrnehmung dieser Störung zu fördern und den Betroffenen angemessene Unterstützung zu bieten. Mythen und Fehlinformationen können zu Stigmatisierung, Vorurteilen und unzureichender Behandlung führen, was die Lebensqualität der Betroffenen erheblich beeinträchtigen kann. Durch eine bessere Aufklärung können Fachleute, Eltern, Lehrer und die breite Öffentlichkeit besser informiert sein und die richtigen Maßnahmen ergreifen, um den Bedürfnissen von Menschen mit ADHS gerecht zu werden. Außerdem kann sie dazu beitragen, Vorurteile abzubauen und ein unterstützendes Umfeld zu schaffen, das die Integration und Akzeptanz von Menschen mit ADHS fördert. Des Weiteren kann die Lebensqualität erheblich verbessert und die Akzeptanz von Menschen mit ADHS in der Gesellschaft gefördert werden.
ADHS im Sinne der Neurodiversität: Zwischen Störung und Andersartigkeit
ADHS, kurz für Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, wird oft mit Ablenkbarkeit, Impulsivität und Hyperaktivität in Verbindung gebracht. Doch jenseits der gängigen Wahrnehmung als Störung gibt es eine vielschichtige Perspektive auf ADHS als Teil der neurodiversen Landschaft unserer Gesellschaft. In diesem Blogbeitrag werden wir den Spagat zwischen der Definition als Störung und der Betrachtung von ADHS als Ausdruck neuronaler Vielfalt, den gesellschaftlichen Einflüssen auf die Wahrnehmung von ADHS und die Stigmatisierung der neurologischen Besonderheiten beleuchten. Auch einige positive Aspekte sowie Herausforderungen möchten wir aufzeigen.
Störung vs. Andersartigkeit: Die klassische Sichtweise von ADHS als Störung ist durch die Klassifizierung im ICD-10 ("International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems"), primär durch Defizite in der Aufmerksamkeit, Impulsivität und motorischer Unruhe, festgehalten. Je nach Ausprägung der Symptome und Passung mit der Umwelt kann der Leidensdruck erhebliche Ausmaße annehmen.
Zunehmend wird ADHS jedoch auch als Ausdruck einer neurodiversen Welt verstanden, in der unterschiedliche neuronale Verknüpfungen eine breite Palette von Verhaltensweisen und Denkweisen hervorbringen. Die Wahrnehmung von ADHS als Teil der menschlichen Vielfalt, und nicht nur als pathologische Abweichung, eröffnet neue Perspektiven und Ansätze für die Unterstützung von Betroffenen.
Im Laufe der Geschichte hat die Gesellschaft einen erheblichen Einfluss auf die Festlegung dessen, was als Störung betrachtet wird. Die Definitionen von Störungen wurden oft durch kulturelle Normen, soziale Erwartungen und politische Interessen geprägt. Beispielsweise wurden in früheren Zeiten Verhaltensweisen, die von den gesellschaftlichen Normen abwichen oder als ungewöhnlich empfunden wurden, oft als Störungen oder geistige Krankheiten betrachtet. Im Laufe der Zeit haben sich die Vorstellungen darüber, was als normal oder abweichend betrachtet wird, verändert, was sich auch auf die Definitionen und Wahrnehmungen von Störungen ausgewirkt hat. Gesellschaftliche Veränderungen, wie die Einführung von Bildungs- und Beschäftigungsnormen, haben dazu beigetragen, dass bestimmte Verhaltensweisen als störend oder abweichend betrachtet wurden, während andere als akzeptabel galten. Darüber hinaus haben auch wissenschaftliche Entwicklungen und Fortschritte im Verständnis von Psychologie und Neurologie dazu beigetragen, die Definitionen und Klassifikationen von Störungen im Laufe der Geschichte zu verändern. Neue Erkenntnisse über die Ursachen und Mechanismen von Verhaltensweisen haben dazu geführt, dass einige Zustände neu kategorisiert wurden oder dass neue Störungen identifiziert wurden.
Die Wahrnehmung von ADHS wird ebenfalls stark von gesellschaftlichen Normen und Erwartungen geprägt. In einer Welt, die oft nach Effizienz und Konzentration strebt, können Menschen mit ADHS Schwierigkeiten haben, sich anzupassen. Die Etablierung von Standards in Bildung, Arbeit und sozialem Leben kann zu einem erhöhten Leidensdruck und einer Stigmatisierung von Menschen mit ADHS führen, da Abweichungen von der Norm oft als negativ bewertet werden. Aktuell wird die ADHS als Störung angesehen, da klinische Merkmale definiert wurden, neuronale Unterschiede festgestellt werden konnten und in vielen Fällen auch ein Behandlungserfordernis vorliegt, wenn die Lebensqualität beeinflusst wird. Immer mehr wird jedoch auch eine erweiterte Sichtweise diskutiert, welche im Folgenden erläutert wird.
Neurodivergenz und positive Aspekte: Neben den negativen Auswirkungen bestehen auch positive Aspekte von ADHS, die oft übersehen werden. Menschen mit ADHS können oft kreativer denken, innovative Problemlösungen auftun und hochenergetische Persönlichkeiten sein. Ihre Fähigkeit, schnell zu denken und sich in verschiedenen Bereichen zu engagieren, kann zu bemerkenswerten Leistungen führen. Die Betrachtung von ADHS als Ausdruck von Neurodivergenz- eine alternative Reizverarbeitung im Gehirn und Reaktion darauf- eröffnet Raum für die Wertschätzung der einzigartigen Fähigkeiten und Perspektiven von Betroffenen.
Stigmatisierung und Herausforderungen: Trotz der positiven Aspekte stehen Menschen mit ADHS oft vor erheblichen Herausforderungen durch Defizite in verschiedenen Bereichen. Typischerweise sind Aufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität anders ausgeprägt als bei neurotypischen Menschen. Die Symptome von ADHS sind sehr individuell und können in allen Lebensbereichen zu Schwierigkeiten oder Konflikten führen. Zusätzlich kommt es leider immer noch häufig zu einer stigmatisierten Wahrnehmung in der Gesellschaft. Der Umgang mit Vorurteilen, Diskriminierung und dem Druck, sich anzupassen, kann zu einem erhöhten Leidensdruck führen und die Lebensqualität beeinträchtigen. Es ist wichtig, die vielschichtigen Bedürfnisse und Herausforderungen von Menschen mit ADHS anzuerkennen und Unterstützung zu bieten, die ihre individuellen Stärken und Schwächen berücksichtigt. Die Etikettierung als „gestört“ kann in den Betroffenen Gefühle der Minderwertigkeit hervorrufen und sich negativ auf Selbstwert und Selbstwirksamkeit auswirken. Es ist wichtig, Menschen mit ADHS nicht auf ihre Andersartigkeit zu reduzieren.
ADHS im Sinne der Neurodiversität gilt als komplexes Phänomen, das sowohl Störung als auch Ausdruck von neuronaler Vielfalt sein kann. Die gesellschaftliche Wahrnehmung von ADHS beeinflusst maßgeblich den Umgang mit dieser Besonderheit. Durch eine breitere Anerkennung und Wertschätzung von Menschen mit ADHS als Teil der menschlichen und neuronalen Vielfalt können wir dazu beitragen, die Lebensqualität von Betroffenen zu verbessern und eine inklusivere Gesellschaft zu schaffen. Eine Gesellschaft, in der Andersartigkeit ohne Wertung betrachtet werden kann und Unterstützung angeboten wird, wenn diese gewünscht ist.